Mathys 1921 - 2021

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Ein Unternehmen mit Vergangenheit

Die Bettlacher Mathys AG ist eine Perle der Solothurner Wirtschaft. Gegründet wurde das Pionierunternehmen der Medizintechnik vor 75 Jahren. Zugleich jährte sich 2021 der Geburtstag von Firmengründer Robert Mathys zum hundertsten Mal.

Der fantastische Aufstieg der Firma Mathys beginnt am 8. April 1958, als der Chirurg Maurice E. Müller mit einem Citroen an der staubigen Bettlacher Bahnhofstrasse beim kleinen Firmengebäude der «Apparatebau Rob. Mathys» vorfährt. Der Orthopäde sucht einen Mechaniker, der Schrauben und Platten für die Fixierung von Knochenbrüchen herstellen kann. Bisher haben alle Firmen abgesagt. Sein Angebot ist alles andere als lukrativ. Niemand weiss zu diesem Zeitpunkt, ob sich die von Müller propagierte neue Operationstechnik der Osteosynthese jemals durchsetzen wird. Zudem verlangt Müller eine Entwicklungszeit von über drei Jahren, in der die Firma nichts verdient.

Robert Mathys lässt sich auf das Abenteuer ein. Dabei ist er mit seiner 1946 gegründeten Firma eben erst aus den gröbsten Startschwierigkeiten herausgekommen. Jahrelang hat der begeisterte Pilot, den es wegen des Flugplatzes an den Jurasüdfuss gezogen hat, um die Existenz seines Betriebes gekämpft. Weil die bereits sechsköpfige Familie auf vieles verzichtete und im Betrieb mithalf, war es gelungen, den Einmannbetrieb kontinuierlich zu vergrössern. Nun beginnt wieder alles von vorne.

Der Mechaniker Mathys (Bild oben), der schon als Jugendlicher in Jegenstorf «Motörli-Röbu» genannt worden war, entpuppt sich als genialer Entwickler von anspruchsvollen Gerätschaften für den Operationssaal. Innert kürzester Zeit entwickelt er ein "Instrumentarium", das bis zum heutigen Tag Standards in der Knochenchirurgie gesetzt hat (Bild unten).

Wenige Jahre später setzen die neuartigen Operationsmethoden mit den Metallteilen aus Bettlach zu einem weltweiten Siegeszug an. Mit der Baselbieter Firma Straumann ist eine zweite Produktionsfirma zur neuartigen Kooperation von Medizinern und Industriellen gestossen. 1963 steht die weltweite Expansion vor der Tür. Im November teilen Mathys, Straumann und eine Abordnung der Chirurgen im Bahnhofbuffet Olten den Weltmarkt auf, indem sie Lose ziehen. Mathys zieht neben europäischen Ländern vor allem den ganzen asiatischen Markt und Australien. Jetzt schiessen über den ganzen Globus Tochtergesellschaften aus dem Boden. In Bettlach expandiert die kleine mechanische Werkstätte zum Industrieunternehmen und dominiert schon bald das ganze Bahnhofquartier. (Untenstehend ein Luftbild von 1976 mit dem Firmengelände und dem Mathys-Hochhaus im Hintergrund) Robert Mathys wird zum international gefragten Experten, den die Universität Bern 1974 mit dem Titel eines Ehrendoktors würdigt.

Im Sog des Pionierunternehmens Mathys entstehen am Jurasüdfuss zahllose weitere Firmen, die entweder als Zulieferer tätig sind oder ebenfalls im lukrativen Markt für Medizintechnik Fuss fassen wollen. Heute gibt es allein im Kanton Solothurn 92 Firmen der Medizintechnik mit 6200 Beschäftigten. Das entspricht einem Zehntel aller Arbeitsplätze der Branche in der Schweiz. Der grösste Teil dieser Unternehmen ist auf relativ kleinem Raum zwischen Grenchen und Solothurn angesiedelt. 2019 hat der Historiker Viktor Moser in einer Masterarbeit die Entwicklung der Medizintechnik am Jurasüdfuss untersucht. Darin schildert er ausführlich, dass die Firma Mathys den Grundstein für diese Entwicklung gelegt hat. Begünstigt wurde das schnelle Wachstum der Branche aber auch durch die lange regionale Tradition in der Präzisionsmechanik und die hohe Zahl kleiner, innovativer Unternehmen. Die Medizintechnik blühte zu einem Zeitpunkt auf, als die in der Region ebenfalls stark vertretene Uhrenbranche ihre schwerste Krise durchlief und die in vielen Belangen verwandte Medizintechnik für diverse Zulieferbetriebe zum rettenden Ausweg wurde. Auch bei Mathys stammte über all die Jahre rund ein Drittel der Produktion von Zulieferbetrieben.

1996 übernehmen die beiden Söhne Robert Mathys junior und Hugo Mathys die operative Führung der Firma, die inzwischen eine international tätige Aktiengesellschaft mit 500 Angestellten und einem Umsatz von über 250 Millionen Franken ist. Robert Mathys junior schlüpft als Leiter der zwischenzeitlich gegründeten Robert-Mathys-Stiftung in die Rolle des Forschers und Entwicklers von neuen Produkten und leitet gleichzeitig als Verwaltungsratspräsident und Konzernchef die strategische Führung der Firma. Der jüngste Sohn Hugo Mathys übernimmt den Aufbau des «zweiten Standbeins», mit dem sich das Familienunternehmen aus der Abhängigkeit von der Osteosynthese befreien will. Da Mathys schon seit Jahren für Firmen wie Protek und Sulzer Hüftprothesen produziert, will die Firma das Sortiment erweitern und unter eigenem Namen vertreiben. Überdies betreut Hugo Mathys, der wie sein Vater ein begeisterter Pilot ist, die inzwischen 16 weltweiten Tochtergesellschaften, die meist in der Nähe eines Flugplatzes liegen.

Seit den Achtzigerjahren ist in den USA ein dritter Produzent zu den Pionieren Mathys und Straumann hinzugekommen. Geleitet vom Berner Hansjörg Wyss und begünstigt von einem riesigen attraktiven Markt überflügelt Synthes USA umsatzmässig ihre beiden Partner innert weniger Jahre deutlich. Das Bild oben zeigt Hansjörg Wyss (sitzend) 1992 anlässlich einer Vertragsunterzeichnung mit Rudolf Maag von Stratec und Reiner Mathys (rechts). 1999 übernimmt Wyss die aus Straumann hervorgegangene Stratec im Kanton Baselland und fasst damit auch in Europa Fuss. Die beiden Mathys-Brüder der zweiten Generation setzen gemeinsam mit dem von Sulzer geholten Manager Erwin Locher ebenfalls auf Expansion und erzielen mit der «Mathys Medizinaltechnik Bettlach» ein fulminantes Wachstum. Gleichzeitig gerät das Geschäftsmodell des Verbundes von Chirurgen und Produktionsfirmen ab Ende der Neunzigerjahre zunehmend in den Fokus der europäischen Kartellbehörden. Aufgrund drohender Bussen und weil die Absprachen obsolet geworden sind, entschliessen sich die Familien Mathys und Marzo 2003, das Osteosynthesegeschäft abzustossen. Damit verkaufen sie 90 Prozent der damaligen Firma Mathys an die inzwischen dreimal grössere Synthes-Stratec von Hansjörg Wyss. Zwischenzeitlich haben die Firmen weiter die Hand gewechselt. Ein Teil von ihnen firmiert unter dem Namen Johnson & Johnson, die eigentlichen Produktionsstätten gehören zum Konzern «Jabil». Das Bild unten zeigt die Brüder Robert Mathys junior (Mitte links) und Hugo Mathys (Mitte rechts), flankiert von Erwin Locher (rechts) und Finanzchef Herbert Betschmann (links).

Die Firma Mathys ist nach dem Verkauf auf einen Zehntel ihres Volumens geschrumpft und belegt nur noch das Kernareal im Bettlacher Bahnhofquartier. Es ist die Stunde des Hugo Mathys, dessen «zweites Standbein» nach der Abspaltung der Osteosynthese zur einzigen tragenden Säule der Firma werden muss. Es folgt eine weitere lange Durststrecke von über zehn Jahren, bis die neue Mathys AG Bettlach sich ihren Platz im hart umkämpften Markt für Gelenkersatz erobert hat. Das gelingt dank zahlreichen Innovationen und dem unerschütterlichen Rückhalt der Familien Mathys und Marzo, die an den Erfolg der Mission glauben. Kurzfristiges Gewinnstreben war deren Sache nie. Als patronales Familienunternehmen war die Firma Mathys seit jeher eine fortschrittliche Arbeitgeberin, die ihrer Belegschaft früh Mitspracherechte einräumte und die sich die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Region etwas kosten liess. 2016 kann sich Hugo Mathys aus dem operativen Geschäft zurückziehen und das Steuer in der Firma seinem Nachfolger Benjamin Reinmann überlassen. Von 2004 bis 2016 hat Hugo Mathys die Zahl der Arbeitsplätze von 230 auf 500 gesteigert und den Umsatz von 56 auf 160 Millionen Schweizer Franken. 2020 übergibt er auch das Präsidium des Verwaltungsrates an seinen Neffen Livio Marzo, den ersten Vertreter der dritten Generation.Das Bild zeigt Hugo Mathys (links) und Livio Marzo anlässlich von dessen Wahl in den Verwaltungsrat im Jahr 2008.

Inzwischen ist die Mathys AG Bettlach als Anbieterin von Hüft-, Knie- und Schultergelenken nachhaltig in ihrem Segment etabliert. Um der Firma weitere Entwicklungsschritte zu ermöglichen, haben die Familien Mathys und Marzo das Unternehmen im Mai 2021 an den Mutterkonzern der US-Firma DJO verkauft. Durch den Zusammenschluss mit DJO finden zwei Firmen zusammen, deren Sortimente sich ideal ergänzen. Für die Mathys AG geht die 75jährige Geschichte mit neuen Perspektiven weiter. Die Familien Mathys und Marzo schliessen mit dem Verkauf eine ereignisreiche Gründergeschichte ab.

 

 

 

Zu den Büchern

Treibende Kraft hinter den beiden Büchern zum 100. Geburtstag von Firmengründer Robert Mathys und dem 75-Jahr-Jubiläum der Firma war dessen Ehefrau Lisbeth Mathys (Bild oben), die nach wie vor in Bettlach lebt. Unterstützt wurde das Projekt durch die Familienmitglieder der zweiten Generation, Robert Mathys junior, Ursula Marzo, Reiner Mathys und Hugo Mathys. Die Umsetzung leitete seitens der Familie Livio Marzo. Zuständig für die Produktion war  Michael Hug, der die Archiv- und Bildrecherche verantwortet, die Interviews durchführte und die Texte verfasste sowie die Herstellungsarbeiten koordinierte. Layout und Grafik wurden von Monika Stampfli, Typografik, Solothurn und Ronald Studer, Bureau Ronald Studer in Solothurn konzipiert und umgesetzt. Das Korrektorat besorgte Petra Meyer, Korrektorium in Beromünster, die Bildbearbeitung die Firma Burki Scherer in Zofingen. Gedruckt wurden beide Bücher bei der Druckerei Herzog in Langendorf. Umgesetzt wurde das Projekt im Zeitraum von Herbst 2020 bis Dezember 2021.

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