„Windelweiche Freisinnige“: Wie die SP 30 Jahre lang um eine angemessene Vertretung im Bundesrat kämpfte

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Am Samstag, dem 30. November 1929 strömten im Volkshaus Basel 500 Sozialdemokraten aus der ganzen Schweiz zusammen, um über das Wochenende einen wegweisenden Parteitag abzuhalten. Es ging um die sogenannte „Beteiligungsfrage“, um den Entscheid, ob sich die SP weiterhin als revolutionäre Gruppierung versteht, oder ob sie sich dem System unterordnen und für den Bundesrat kandidieren soll. Acht Jahre zuvor hatte sie sich nach dem Landesstreik gespalten und den linken Flügel in eine kommunistische Partei verabschiedet. Aber auch das Parteiprogramm der SP sah 1929 Gewalt noch ausdrücklich vor, „falls das Verhalten des Bürgertums dazu zwingt“. Bevor die Diskussion der Delegierten begann, wurde darüber abgestimmt, ob die bürgerliche Presse zugelassen sei.

Sie durfte bleiben und so konnte das interessierte Publikum am Montag in der „Neuen Zürcher Zeitung NZZ“ nachlesen, wie der Berner Gewerkschafter und Nationalrat Robert Bratschi in einer anderthalbstündigen Rede für die Regierungsbeteiligung geworben hatte: „Von einer Programmänderung mit Bezug auf Klassenkampf, Landesverteidigung und so weiter kann natürlich keine Rede sein; man muss uns nehmen wie wir sind, oder auf uns verzichten“, deklamierte Bratschi. Das Endziel bleibe „der Aufbau der klassenlosen sozialistischen Gesellschaftsordnung.“ Ein Neuenburger Redner formulierte es so: „Die Bourgeoisie wünschte, dass wir uns wieder den früheren romantischen Methoden zuwenden. Wir sind für die Methode der Pénétration, der Durchdringung des Bürgertums“.

Die SP wies seit Einführung der Proporzwahl 1919 ähnlich wie heute die SVP einen Wähleranteil von 27,5 Prozent auf. Aber die Macht im Bundesrat teilten sich 1929 allein die rund 225’000 Wähler der Freisinnigen und die 180’000 der Katholisch-Konservativen, der heutigen CVP. Die 225’000 sozialdemokratischen Wähler, die 130’000 Bauern und 50’000 Anhänger anderer Kleinparteien waren von der Macht ausgeschlossen und müssten sich nun Gehör verschaffen, fanden die Befürworter. Die Rechte könne sie nicht länger ausgrenzen: „Ein solches Unrecht würde als Hefe wirken und uns bis zu den Wahlen 1931 gewaltig stärken.“

Die Gegner einer Beteiligung befürchteten, die SP werde domestiziert: “Es ist bedauerlich, dass der einst so entschlossen geführte Klassenkampf der Eisenbahner und des andern eidgenössischen Personals so kläglich im Kampf um einen Sessel endet,“ rief der Genfer Léon Nicole in den Saal. „Nicht um den Preis von zwei Bundesräten stimmen wir einem Gesetz zu, das Strafbestimmungen gegen Gotteslästerung enthält, nachdem seit 25 Jahren kein Geistlicher mehr die Genfer Schulen betreten durfte“. Selbst der Auslöser der Diskussion, der unerwartete Tod von Bundesrat Karl Scheurer, war in seiner Lesart ein politisches Manöver: „Es war der letzte Witz des humorbegabten Staatsmannes Scheurer, in dieser Situation zu sterben“. Der ehemalige Landesstreikführer und jetzige SP-Präsident Robert Grimm wandte sich im Schlusswort ebenfalls gegen die Beteiligung: „Unsere erste Frage sollte lauten: Was offeriert uns die Bourgeoisie? Statt dessen hegt das Bürgertum Erwartungen.“

Die Sozialdemokraten entschieden trotzdem, sich um einen Bundesratssitz zu bewerben und traten zwei Wochen später mit dem Stadtpräsidenten des „roten Zürich“, Emil Klöti, in der vereinigten Bundesversammlung an. Sie hatten sich für einen, statt für zwei Kandidaten entschieden, obwohl eine Zweiervertretung den proportionalen Ansprüchen entsprochen hätte. Sie wollten „den Bürgerlichen das Neinsagen so schwer wie möglich machen“.

Jene, die schon in Basel prophezeit hatten, dass es immer irgend welche Gründe für eine Ausgrenzung der SP geben werde, sollten Recht bekommen. Im Bundeshaus hatte bereits die „kluge Vorsehung gewalthert“, wie es dort in Anspielung auf den mächtigen katholisch-konservativen Fraktionschef Heinrich Walther bei solchen Gelegenheiten jeweils hiess. Walther hatte mit einem juristischen Winkelzug die Wahlreihenfolge für die beiden freien Bundesratssitze geändert, so dass zuerst jener der Berner besetzt werden musste. Die Bundesversammlung zog es vor, statt der Sozialdemokraten zuerst die neue Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) des Berners Rudolf Minger in den Bundesrat aufzunehmen.

Beim zweiten, dem Zürcher Sitz, liess sie den sozialdemokratischen Kandidaten ins Leere laufen und wählte statt dessen gewissermassen das genaue Gegenteil: Den damaligen Chefredaktor der NZZ, Albert Meyer. Meyer war angeblich gegen seinen Willen gewählt worden. Bei jedem Wahlgang betonte er, er stehe nicht zur Wahl und die Versammlung solle die Stimme nicht etwa dem Sozialdemokraten, sondern den offiziellen freisinnigen Kandidaten Wettstein geben. Nachdem er trotzdem gewählt war, bedingte er sich, wie 78 Jahre später Eveline Widmer-Schlumpf, noch 24 Stunden Bedenkzeit aus, bevor er den Amtseid ablegte.

Die Empörung in der Öffentlichkeit war gross, wie die NZZ tags darauf gewunden feststellte: „Man darf sich fragen, ob die bis zur Erregung gesteigerte Anteilnahme der Oeffentlichkeit an den Wahlvorbereitungen nicht dem Gefühl entsprang, diese entsprächen nur ungenügend dem Massstab, den das Publikum glaubt anlegen zu dürfen.“ Auf die Enttäuschung der linken Wählerschaft ging die Zeitung allerdings nicht ein. Statt dessen schwadronierte sie unter der Feststellung „Habemus consules“ über die Gewissensnot der Redaktion: „So wagen wir denn auch nicht, wir an der Zeitung, die Dr. Meyer zu hohem Ansehen emporführte und zu grosser Entfaltung brachte, wir die seit acht Tagen uns dem Entscheid der radikaldemokratischen Fraktion gerne gefügt hatten, unsern Chef kurzerhand zu ersuchen, weiter in unserer Mitte zu weilen und zu wirken.“ Zeitungen waren zu dieser Zeit Parteiblätter und Chefredaktoren im Bundesrat eher die Regel als die Ausnahme.

Der Massstab des Publikums war hingegen nicht massgebend. In den folgenden Jahren verschärfte sich die Wirtschaftskrise und das politische Klima. 1935 bekannte sich die SP zur militärischen Landesverteidigung. 1937 unterschrieben Gewerkschaften und Arbeitgeber das Friedensabkommen der Sozialpartner. 1939 brach der zweite Weltkrieg aus und die SP wurde trotz der Annäherungen mit dem Argument ausgegrenzt, man wolle die faschistischen Nachbarn nicht unnötig reizen. Oder ihre Haltung gegenüber der Armee sei noch nicht verlässlich genug. 1934, 1935 und 1938 versuchte die SP dreimal, einen Bundesratssitz zu ergattern. Aber sie blieb chancenlos.

Als sich die Niederlage von Hitler-Deutschland abzeichnete, war die Zeit für eine Einbindung der Linken so überreif, dass der Freisinn seinen Zürcher Bundesratssitz freiwillig anbot. Die sozialdemokratische Fraktion nominierte wiederum den Zürcher Stadtpräsidenten, der inzwischen Ernst Nobs hiess. „Im Falle, dass für den freigewordenen Sitz im Bundesrat ein anderes Mitglied der SP vorgezogen werden sollte, wird dieses die Nichtannahme der Wahl erklären“, gab sie den Tarif durch. Die Freisinnigen erklärten, sie seien bereit, den Sozialdemokraten einen Sitz im Bundesrat zu überlassen, „wenn gegen die Persönlichkeit des Hauptkandidaten keine Einwendungen bestehen.“

Nobs wurde schliesslich mit 122 Stimmen im ersten Wahlgang gewählt. Bei der SP fühlte man sich deswegen aber nicht zu Dank verpflichtet: „Wir werden als Sozialisten unsere sozialistischen Ziele verfolgen und unserer Weltanschauung treu bleiben, auch wenn wir im Bundesrat vertreten sind“, sagte Nationalrat Grimm noch am Wahltag. Die Basler AZ giftete, die SP habe der FDP „nichts zu verdanken, das war bloss formal ein Verzicht“. Und das Zürcher Volksrecht höhnte: „Es war ein Erpressungsmanöver, das bei dem windelweichen Charakter des Freisinns glücken musste“.

Die bürgerliche Presse fing die linken Giftpfeile mit gönnerhaften Kommentaren ab: „Darum mussten im Salutschiessen der sozialistischen Presse zu Ehren von Bundesrat Nobs noch ein paar scharfe Ladungen abgepfeffert werden, damit auch allfällige enttäuschte oder misstrauische Genossen mit heiterer Miene den 15. Dezember 1943 betrachten können“, erklärte die NZZ ihrer Leserschaft. Betreffend die „windelweichen Freisinnigen“ stellte sie klar: „Man frohlockt, dass die freisinnige Mehrheit im Bundesrat nicht hundert, sondern nur 95 Jahre alt geworden ist. Aber man scheint nicht zu wissen, dass nur auf dem vom Freisinn gerodeten und bebauten Boden des Liberalismus der sozialdemokratische Baum wachsen konnte. Und man scheint vergessen zu haben, dass auf dem gleichen Boden auch der Wille zur kraftvollen militärischen Landesverteidigung gewachsen ist, ohne den die gepanzerte neueste Weltgeschichte wohl sichtbarere Spuren in diesen Schweizerboden gefurcht hätte.“ Was den Freisinnigen vom Sozialdemokraten trenne, dozierte die NZZ, „wird immer die höhere Achtung vor der Persönlichkeit und vor der persönlichen Sphäre sein, wenn das ihm ebenfalls nicht fremde Wort <sozial> zu sehr mit Vermassung und Gleichmacherei verwechselt wird.“

Mit der Wahl von Nobs war die Integration der Linken noch lange nicht abgeschlossen. Als der Zürcher Stadtpräsident 1951 seinen Rücktritt gab, wählte die Bundesversammlung einen Mann aus dem Zentrum der sozialistischen Hochburg im heutigen Zürcher Langstrassen-Quartier. Mit dem klugen Finanzpolitiker Max Weber zog erstmals ein Pazifist in die Regierung ein. Weber hatte sich 1930 geweigert, Militärdienst zu leisten. Nach Kriegsausbruch stellte er ein Gesuch um Wiedereingliederung, das von General Guisan schroff zurückgewiesen wurde. Darauf kaufte er sich ein Gewehr und meldete sich bei der Ortswehr, wo er bis zum Kriegsende freiwilligen Dienst leistete. Trotzdem galt ein Dienstverweigerer als Bürger zweiter Klasse. Weber hatte mit seiner Kandidatur lange gezögert, weil er wusste, dass das Thema vor seiner Wahl wieder breit getreten würde.

Er wurde er trotzdem gewählt und brachte eine grosse Bundesfinanzreform vor die Räte. Dort passierte sie noch mit Abstrichen, aber dann bodigte ein bürgerliches Referendumskomitee die Vorlage „mit skrupellosen Mitteln“, wie Weber fand. Schon zwei Jahre nach seiner Wahl trat er völlig überraschend und desillusioniert zurück. Mit ihm zog sich die SP wieder in den „Jungbrunnen der Opposition“ zurück. Erquickend scheint das Bad nicht gewesen zu sein:

Schon bald verhandelt sie wieder über eine Regierungsbeteiligung. Der grosse Strippenzieher hinter den Kulissen war inzwischen CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg, der im sich verschärfenden Konflikt zwischen FDP und CVP zunehmend mit der Linken paktierte. Dass sich das bürgerliche Machtgefüge in Auflösung befand, kündigte sich 1958 an, als das Parlament den Auslandschweizer Friedrich Traugott Wahlen in den Bundesrat hob. Wahlen genoss als Vater der Anbauschlacht im zweiten Weltkrieg Heldenstatus und war Jahre zuvor schon vom Landesring vorgeschlagen worden. Dieses Mal hatte ihn die BGB nach einem Betriebsunfall bei der internen Nomination vorgeschlagen, weil er bei SP und Presse gut ankam.

Ein Jahr später war die von Rosenberg erhoffte Konstellation mit dem Rücktritt von vier Bundesräten Tatsache. Er hatte schon lange auf eine Allparteienregierung hingearbeitet, für die „durch eine loyale und stärkegerechte Zusammenarbeit der grossen Parteien alle politischen Kräfte zum Wohle von Land und Volk mobilisiert werden.“ Grundidee dieses „freiwilligen Proporzes“ ist, dass sich 80 Prozent der Wählenden in ihrer Regierung vertreten sehen, wie Historiker Urs Altermatt in seinem Standardwerk zur Geschichte des Bundesrates beschreibt. In jüngster Zeit erklärt Altermatt, der persönlich der CVP nahesteht, die Zauberformel sei tot, die Konkordanz ausgehöhlt.

Auch der Friede von 1959 kam nicht ohne Machtdemonstration zustande: Bei der SP stand deren charismatischer Präsident Walter Bringolf aus Schaffhausen schon lange bereit, seine Karriere mit dem Einzug in den Bundesrat zu krönen. Seine Nomination war intern eine Selbverständlichkeit. Für den zweiten Sitz wurde Willy Spühler in die Wahl geschickt, wiederum ein Stadtzürcher, der als Sohn einer Arbeiterfamilie an der Langstrasse aufgewachsen war. Er trug den Übernamen „Lord von Aussersihl“ und galt als sozialdemokratischer „Musterschüler“.

Bringolf, der ehemalige Kommunist, stiess im bürgerlichen Lager auf Widerstand. In Wirklichkeitvfürchteten seine Gegner wahrscheinlich vor allem sein dominantes Auftreten. Rosenberg forcierte einen Plan B und lancierte den Basler Professor Hans Peter Tschudi als Ausweichkandidaten. Teile von Freisinn und Konservativen hatten mit dem Spitzenbeamten Hans Schaffner noch ein letztes Rückzugsgefecht organisiert, um die Doppelvertretung der Linken zu sabotieren. Prompt erreichte Schaffner im ersten Wahlgang 84 Stimmen, während Tschudi 73 und Bringolf sogar bloss 66 Stimmen erhielt. Im zweiten Wahlgang ging Tschudi mit 107 in Führung, Schaffner fiel auf 91 zurück und Bringolf erklärte nach seinem mageren Resultat von 34 Stimmen den Verzicht. Die Niederlage verdaute er sein ganzes Leben lang nicht mehr, wie Helmut Hubacher noch aus eigener Erfahrung weiss.

30 Jahre waren jetzt vergangen, seit sich die Sozialdemokraten erstmals um die Regierungsbeteiligung beworben hatten. Jetzt waren sie mit zwei Bundesräten angemessen an der Macht beteiligt. Hans Peter Tschudi ging den Reformstau mit hohem Tempo an. Er baute forsch die Sozialversicherungen und die Nationalstrassen aus. Willy Spühler seinerseits forcierte den Einstieg in die Atomenergie – gegen den Widerstand der Elektrizitätswirtschaft. Atomkraftwerke und Autobahnen – das waren die Projekte ihrer Bundesräte, als die SP endlich richtig mitregieren konnte.

Quellen: Die Schweizer Bundesräte; Ein biografisches Lexikon; Herausgegeben von Urs Altermatt; Artemis Verlag 1991

Archiv der Neuen Zürcher Zeitung NZZ

 

Seit 1848 wurde die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates nur sieben Mal verändert.

43 Jahre lang, von 1848 bis 1891, regierte im Bundesrat eine einzige Partei: Die FDP. Sie hatte nach dem letzten Bürgerkrieg, dem Sonderbundskrieg zwischen Konservativen und Liberalen, den Bundesstaat durchgesetzt. Und sie verteidigte den anfänglich verhassten Zentralstaat in seinen ersten Jahren in einem langen „Kulturkampf“ gegen die ständigen Anfechtungen aus der katholisch-konservativen Innerschweiz.

Kurz vor der Jahrhundertwende waren die Freisinnigen allmählich zermürbt von den „Referendumsstürmen“ ihrer Gegner, die das junge Gebilde immer wieder lahmlegten. Zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesstaates setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Gegner an der Macht beteiligt werden müssen, wenn die Blockade beendet werden soll.

1991 wählten die Freisinnigen mit dem Entlebucher Josef Zemp erstmals einen Katholisch-Konservativen in den Bundesrat. Das Volk hatte soeben die Verstaatlichung der Eisenbahn abgelehnt. Das Land befand sich in einer Regierungskrise und der zuständige freisinnige Bundesrat Emil Welti hatte das Handtuch geworfen. Jetzt, als der Schlamassel angerichtet war, wurde den „Schwarzen“ gewährt, worum sie vorher jahrelang gebeten hatten.

Wie bisher jedes Mal, wenn eine neue Kraft in die Regierung eingebunden worden war, folgte der Einigung ein Modernisierungsschub. Zemp, zuvor Gegner der Bahnverstaatlichung, realisierte sie nun als Bundesrat schrittweise. „Zemp hat seine ganze Vergangenheit vergessen und ist mit Sack und Pack in das radikale (freisinnige) Lager hinüber gezogen“, kommentierte dies ein paar Jahre später einer seiner einstigen Weggefährten. Es war auch ausgerechnet Zemp, der das Bundeshaus, Symbol des heftig bekämpften Bundesstaates einweihen konnte. Der Pilotversuch in Sachen Konkordanz war eine Erfolgsgeschichte. 1919 erhielten die Katholiken mit dem Freiburger Jean-Marie Musy einen zweiten Bundesrat. Das war zunächst einmal das kleinste Übel für den Freisinn, der bei der ersten Proporzwahl seine absolute Mehrheit im Nationalrat verloren hatte.

Der Kulturkampf lebte zwar in Form allergischer Reaktionen zwischen Freisinnigen und Konservativen noch hundert Jahre weiter, aber inzwischen hatten sich neue politische Gräben geöffnet. Auf der linken Seite war das Proletariat zu einer bedeutenden Kraft geworden und auf der rechten die Bauernschaft, deren wichtige Rolle im ersten Weltkrieg das Selbstbewusstsein gestärkt hatte. Die Linke war bis zum Landesstreik von 1918 in Fundamentalopposition und peilte den Umsturz an. Die Bauern formierten sich 1917 bei der berühmten „Bierhübeli-Rede“ von Rudolf Minger zur Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei BGB.

1929 gaben die Freisinnigen einen weiteren Sitz ab: An Minger und seine BGB. Diese Zusammensetzung von 4-2-1 sollte bis gegen Kriegsende Bestand haben. Gleichzeitig begann die epische Geschichte der sozialdemokratischen Einbindung (Haupttext), die erst 1959 ein glückliches Ende fand.

Rosenbergs Zauberformel 2-2-2-1 bewährte sich bis zur Jahrtausendwende. Als die neue SVP von Christoph Blocher 1999 die 20-Prozent-Marke durchbrach, kam die Frage der Regierungsbeteiligung wieder auf die Traktandenliste. 2003 wählte die Bundesversammlung mit Ruth Metzler eine CVP-Bundesrätin ab, um der SVP den zweiten Bundesratssitz zu geben. 2007 wählte sie Christoph Blocher wieder ab, weil er sich nicht in die Regierung eingefügt habe. 2015 erreichte die SVP das beste Wahlergebnis einer Partei seit Einführung der Proporzwahl. Aber das muss in der Schweiz noch gar nichts heissen, wie der Blick zurück zeigt.

Erschienen in der Basler Zeitung vom 25.11.2015

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