Viel hält den Kanton Solothurn nicht zusammen – aber mehr als man denkt

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Dünn und unförmig wie ein letzter Schneerest an der Frühlingssonne, liegt der Kanton Solothurn zwischen Bernbiet, Aargau und Baselbiet. Ein Zwischenraum. Ein eigenartiges Gebilde auf der Landkarte – ohne Kopf und ohne Rumpf, nur Arme – oder Tentakel.

Viel ist es nicht, was diesen Kanton zusammenhält. Eher ist es erstaunlich, dass er noch nicht weggeschmolzen ist in den fünf Jahrhunderten, vor denen er im Gezerre um die damals bedeutsamen Jurapässe entstanden ist. Eine Drehscheibe des Verkehrs ist der Kanton geblieben. Aber heute fliesst der Nord-Süd-Verkehr auf der Strasse durch den Belchentunnel und auf der Schiene durch den Hauenstein. Und der Kanton Solothurn besteht mehr denn je aus drei Regionen, die ebenso auf die Pole Bern, Basel und Zürich ausgerichtet sind wie auf ihren eigenen Zentren. Gemeinsam ist den Solothurnern das Autokennzeichen. Die Geschichte. Die Gewohnheit, auch die Buchstaben p und t als b und d auszusprechen. Und der Umstand, dass sie eben gerade nicht Basler, Aargauer oder Berner sind, für die sie oft gehalten werden.

In seinem historischen Bildband über „Reisen im schönen alten Solothurnerland“ schreibt Autor Paul Ludwig Feser: „Wenn in diesem Buch hier Berichte von über 200 Besuchern des Solothurnerlandes versammelt sind, darf dieser Umstand nicht darüber hinweg täuschen, dass sich über die meisten Gegenden der Schweiz viel mehr Zitate finden lassen“. Er habe rund 500 Bücher mit Reiseberichten über die Schweiz durchsucht. In Gut der Hälfte sei der Kanton Solothurn gar nicht oder nur beiläufig erwähnt. Wahrscheinlich deshalb ist es im Solothurnischen immer ein wichtiges und teures Regierungsgeschäft, wenn der Kanton irgendwo ausserhalb seiner Grenzen einen Auftritt hat. Das war schon vor einem Jahr so, als er im Jura Gastkanton am Pferdemarkt von Saignelegier war. Dass wir Solothurner in den kommenden Tagen Gastkanton an der Olma sind, füllt seit Wochen die Spalten in Solothurner Zeitung und Oltner Tagblatt, jenen beiden Kopfblättern der auswärtigen Aargauer Zeitung, die inzwischen noch als einzige über den Kanton berichten. „Ein Auftritt als Gastkanton an der Olma hat in der Tat noch mehr Ausstrahlung als jener in den Freibergen. Hier besteht die Chance, in weiten Teilen der Schweiz von sich reden zu machen, an seinem Bild zu feilen”, kommentierte das Oltner Tagblatt.

Vermutlich ist die Wirkung nach innen grösser als jene nach aussen. Das Motto “Mir gäh dr Sänf drzue” habe im Ostschweizer Blätterwald einen “wahren Orkan” ausgelöst, behauptete der St. Galler Stadtammann Thomas Scheitlin zwar vor zwei Wochen bei einem Besuch an der Solothurner Herbstmesse, wo das Votum dankbar registriert wurde. In Tat und Wahrheit hatte der flockige Spruch aber im Kanton Solothurn selbst ein mehr als doppelt so grosses Medienecho wie in der Ostschweiz.

Auftritte wie jener an der Olma sind für den Staat Solothurn die seltene Gelegenheit, so etwas wie eine kantonale Identität zu beschwören. Ansonsten ist die Politik öfter damit beschäftigt, den zentrifugalen Kräften entgegen zu wirken. Der Kanton ist gleichzeitig Mitglied der Greater Zurich Area, der Regio Basilensis und der Hauptstadtregion Bern. Wenn im Solothurner Rathaus ein wichtiger Investitionsentscheid zu fällen ist, entfesselt dies in der Regel einen Regionenstreit bis an den Rand der Scheidung. Mehr als 10 Jahre dauerte der epische Kampf um den Standort der Fachhochschule für Techniker, für den sich die Städte Grenchen, Solothurn und Olten beworben hatten. Am Schluss siegte 1991 nach zwei Volksabstimmungen das Dorf Oensingen, weil der Rest des Kantons gegen Olten war. Es bedurfte einer dringenden Empfehlung des Bundesrats, diverser Rechtsgutachten und eines neuerlichen Streits, bis der Kantonsrat den Entscheid unter Vermeidung eines weiteren Urnengangs rückgängig machte und die Technikerschule in den ideal gelegenen Eisenbahnknotenpunkt verlegte. Der zuweilen erbitterte Konkurrenzneid auf kleinstem Raum kann schon mal Ratlosigkeit auslösen: “Die Differenz zwischen Oensingen und Solothurn ist doch viel kleiner als zum Beispiel zwischen meinem Heimatort Poschiavo und Chur”, sagte SP-Ständerat Roberto Zanetti, damals noch Solothurner Regierungsrat, in einem Interview.

Die Provinzialität im engen Solothurnerland hat aber auch ihre lustvollen Seiten, wenn die Grenchner und Solothurner an der Fasnacht mit unzimperlichen Pointen ihren Senf zu den Nachbarn geben. Und Streit, durchaus im positive Sinn, gehört hier mehr als etwa bei den stoischen Bernern seit eh und je zur politischen Kultur. Bis weit in die Neunzigerjahre waren die politischen Verhältnisse durch die drei Parteien FDP, CVP und SP geprägt, die mit unterschiedlichen regionalen Ausprägungen insgesamt ungefähr gleich stark waren. In den letzten zwanzig Jahren entstand zuerst eine Autopartei und daraus ein Ableger der vorher inexistenten SVP. Sie ist heute die zweitstärkste Kraft im 100köpfigen Kantonsrat, aber insgesamt besteht dieser nun im Wesentlichen aus vier statt drei ungefähr gleich starken Blöcken.

Stärkste politische Partei ist – noch – der Freisinn. Er blickt im Kanton Solothurn auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurück. Der Oltner Josef Munzinger löste 1831 mit einer flammenden Rede auf der Treppe des Restaurants “Rössli” in Balsthal den Sturz der aristokratischen Regierung in Solothurn aus. Danach war er 15 Jahre lang Regierungspräsident, bevor er 1848 in den ersten schweizerischen Bundesrat gewählt wurde. Solothurn gilt der gebeutelten Schweizer FDP bis heute als Bastion. Allerdings machte die Partei zahlreiche Konzessionen an den Zeitgeist und kokettierte schon früh mit der Abgrenzung zum einstigen “Zürcher Freisinn”. Ordnungspolitisch ist die Solothurner FDP heute eher eine FSP, die etwa bei der milliardenschweren Ausfinanzierung der Pensionskasse nicht einmal mehr auf die Idee kommt, dass auch das Staatspersonal seinen Anteil dazu beitragen könnte. Auch der Kauf des Solothurner Traditionshotels Krone, der angeblich die Ansiedlung eines McDonald in der denkmalgeschützten Altstadt verhindern sollte, wurde vom freisinnigen Finanzdirektor Christian Wanner und seinen Mitstreitern durchgezogen. Dieser Christian Wanner steht sinnbildlich für den Niedergang des solothurnischen Freisinns: Immer wieder gebärdete sich der Bauer aus dem Bucheggberg als moralische Instanz in Partei und Finanzpolitik, der Abzockern und Steuersenkern die Leviten liest. Jetzt, exakt zum Abschluss seiner langen Politkarriere, entpuppte er sich selbst als schamloser Profiteur. Schon seit Jahren kassierte er als Verwaltungsrat des Stromriesen Alpiq neben seinem Regierungsratslohn über 100’000 Franken an “Spesenentschädigungen”. Inzwischen hat er sich halbherzig entschuldigt, aber das Geld behielt er – im Gegensatz zum Ansehen.

Einen eher unwürdigen Abgang erlebte vor kurzem auch der Grenchner Stadtpräsident. Der ehemalige SP-Nationalrat Boris Banga hatte den Zeitpunkt verpasst und wurde nach einem Wahlkampf auf tiefem Niveau abgewählt. Trotzdem oder gerade deswegen ist die Politik in der Kleinräumigkeit des Kantons Solothurn oft unmittelbarer und näher als anderswo. Man kennt sich. Auseinandersetzungen können zwar heftig sein, aber nach geschlagener Schlacht gehts zum parteiübergreifenden Umtrunk. Auch in der Stadt Solothurn, wo der Gemeinderat seit 20 Jahren vom freisinnigen Stadtpräsidenten Kurt Fluri geleitet wird. Solothurn ist durchaus exemplarisch für die politische Kultur der Gegend. Obwohl die Stadt mit ihren 15’000 Einwohnern schon etliche Male über ein Parlament nachgedacht hat, wird sie bis heute von einer 30köpfigen (!) Exekutive regiert. In der Praxis funktioniert sie allerdings wie ein Parlament. Die Macht liegt bei den Profis – dem Stadtpräsidenten und seinen Chefbeamten, welche die Verwaltungsabteilungen führen. Dafür gibt es im trutzigen Landhaus an der Aare mindestens für Budget und Rechnung eine Gemeindeversammlung, an der alle Stimmberechtigten teilnehmen könnten. Mehr als 200 kommen allerdings selten – selbst wenn es um eine Steuersenkung geht.

Das bedeutet allerdings nicht, dass den Solothurnern ihre Stadt egal ware. Im Gegenteil: Ein Fünftel der beliebten Stadtführungen durch die malerische Altstadt wird Jahr für Jahr von Einheimischen selbst gebucht. Jeden Samstag und Mittwoch findet im Zentrum ein stark frequentierter Wochenmarkt statt. Mehr als reich bemessen ist das gastronomische Angebot und bezüglich der Kulturausgaben pro Kopf befindet sich Solothurn regelmässig in den vordersten Rängen. Steuerlich ist der Kanton eher schlechtes Mittelmass, aber die Immoblienpreise sind im Gegensatz zu den grossen Zentren noch human. Solothurn ist eine überaus lebenswerte Mischung aus Stadt und Dorf, verkehrstechnisch hervorragend erschlossen und doch inmitten von wunderbarer Landschaft an der Aare oder auf der ersten Jurakette. Im letzten Jahrzehnt hat sich an der breiten und gemächlich fliessenden Aare eine Bar- und Restaurantmeile entwickelt, die zum Treffpunkt der ganzen Region geworden ist. An lauen Sommerabenden gibt es hier kaum ein Durchkommen mehr. Auch Touristen entdecken das mediterrane Flair der kleinen Stadt, die nicht nur Hotelbetten, sondern in der modernen Jugendherberge direkt an der Aare auch günstige Unterkünfte etwa für Radwanderer anbietet. Nun ist es damit allerdings wieder vorbei. Vom Herbst bis im Frühling ist am Jurasüdfuss auch der Nebel ein häufiger Gast.

Auch abgesehen von Solothurn hat der Kanton seine verborgenen Schönheiten. Das gilt für den Jura, der Wanderern auf der stark begangenen ersten Kette im Herbst einen Weitblick über das Nebelmeer bis zu den Alpen eröffnet. Mindestens ebenso schön ist es aber auch im neuen Naturpark Thal auf der zweiten Jurakette, wo in der Abgeschiedenheit eine weitgehend unversehrte Natur lockt.

Ganz im Norden leben die Schwarzbuben. So nennen sich die Bewohner des nördlichen Kantonsteils, der im Raum Dornach längst mit der Agglomeration von Basel zusammengewachsen ist. Ihr Dialekt ist dem Baseldeutschen ähnlicher als dem der Solothurner südlich des Jura. Über Dornach thront wuchtig das Goetheanum, das geistige Zentrum der anthroposophischen Bewegung in der sanft gewellten Landschaft. Hinter Dornach beginnt der ländlich-jurassische Teil des Schwarzbubenlandes. Mit dem nahen Basel haben die Schwarzbuben politisch nichts zu schaffen. Ihre eigene Hauptstadt ist weit weg. Wenn im Kanton Geld oder Ämter verteilt werden, betonen sie ihre periphere Lage und drohen mit der Abspaltung. Aber wirklich ernst ist es ihnen nicht – ganz im Gegensatz zum benachbarten Laufental, das vom Kanton Bern zum Kanton Baselland wechselte.

Vor dem Jura wird unterschieden in einen oberen und einen unteren Kantonsteil Dazwischen, bei Niederbipp, liegt ein Stück des bernischen Oberaargau, das sich die einst mächtigen Berner damals von den Solothurnern geholt haben. Im unteren Kantonsteil befindet sich nicht die schönste, aber wenigstens die grösste Stadt des Kantons. Olten wuchs mit der Eisenbahn und war lange der wichtigste Knotenpunkt der Schweizer Schienenverbindungen. Umso härter war es für die Oltner, als die ersten Intercity-Züge auch bei ihnen keinen Halt mehr einlegten. Bei jedem Fahrplanwechsel musste der Regierungsrat bei den SBB intervenieren. Wer wie die meisten die Gegend um Olten einfach durchfährt, sieht zunächst den Kühlturm des Atomkraftwerks Gösgen, dann viele Bahnbetriebe, einen wenig charmanten Bahnhof und anschliessend eine flache, Landschaft mit Lagerhäusern, Lastwagen und vielen Strassen. Das alles sieht wenig einladend aus, aber wer sich von den vielbefahrenen Achsen wegbewegt, entdeckt vor allem Richtung Jura und an der Aare die andere, reizvolle Seite der Gegend.

Die Oltner machen sich gern lustig über die Solothurner im oberen Kantonsteil. Etwa wenn der berühmteste Oltner Mike Müller den berühmtesten Solothurner Peter Bichsel parodiert. Die Solothurner geniessen dafür die Schadenfreude, wenn der Favorit für das Oltner Stadtpräsidium den Anmeldetermin für die Wahlen verpasst. Viel ist es tatsächlich nicht, was den Kanton zusammenhält. Möglicherweise existiert er eigentlich gar nicht mehr und die SO-Nummern am Auto wären nach zwei Generationen vergessen, wenn man ihn auflöste. Aber finden Sie mal eine Solothurnerin oder einen Solothurner, der das eine gute Idee findet. Solothurn ist und bleibt ein Kanton, den man beim Aufzählen der 26 Stände gern vergisst. „Wenig Schpäck und vil Schwarte, vil Hag und wenig Garte“.

Erschienen im St. Galler Tagblatt, 10. Oktober 2013

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