Ein Sommer auf Minsener Oog

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Für den Sommer 2019 habe ich meinen Arbeitsplatz ins Wattenmeer verlegt. Auf der unbewohnten Vogelschutzinsel Minsener Oog hütete ich von Ende Mai bis Ende August als Naturschutzwart ein paar tausend Seevögel. In dieser Zeit entstanden die Bilder und die Geschichten in diesem Beitrag. Sie handeln vom Leben in einer Schlengenbude, einer versunkenen Inselbahn, von Ebbe und Flut, nackten Wattwanderern, leuchtenden Nachtwolken, rollenden Tarnzelten und natürlich von den Hauptdarstellern in dieser mit einem Betretungsverbot belegten Naturschutz-Oase: Den vielen Vögeln. Das obige "Titelbild" zeigt Flussseeschwalben im Angriffsmodus. Auch von ihnen ist noch ausführlich die Rede.

Eine künstliche Insel

Minsener Oog ist eine vor 110 Jahren künstlich angelegte Insel, die das Versanden des Fahrwassers für die Schiffe nach Wilhelmshaven bremsen soll. Von ursprünglich über 200 Hektaren ist sie bereits wieder auf 160 Hektaren geschrumpft. Die Unterkunft stand früher auch von der anderen Seite her im Grünen. Heute kommt das Meer wieder bei jedem Hochwasser bis unter das Gebäude, dessen Tage gezählt sind. In der Nordostecke ist die Insel eine Mischung aus einer aufgetauten Polarstation und einem verlassenen Bahnhof im wilden Westen.

Seit dem Rückzug der Buhnenwärter, die das sogenannte Strombauwerk unterhalten haben, wohnen hier nur noch im Sommer Vogelwarte. Deren Aufgabe ist es, Unbefugte vom Betreten der Insel abzuhalten und für die Wissenschaft Daten zu erheben. Minsener Oog gehört zur sogenannten Ruhezone des Nationalparks Wattenmeer, für die ein Betretungsverbot gilt. Eingesetzt werden die Vogelwarte, die offiziell Naturschutzwarte heissen, vom Mellumrat, einem Verein, der die Schutzgebiete auf den Inseln Mellum, Wangerooge und Minsener Oog im Auftrag des Nationalparks betreut.


Eindrücke vom Alltag auf der Insel


Leben in der Schlengenbude

Auf Minsener Oog schläft man nicht in der Hängematte und brät Fisch über dem Lagerfeuer. Die Naturschutzwarte haben ein Dach über dem Kopf, Strom, Heizung, Wasser und richtige Betten. Auf der benachbarten Insel Mellum haben sie Plumpsklo und Holzofen und denken vermutlich, die Kollegen auf Minsener Oog seien verwöhnt. Unsere Hütte steht auf Stelzen, damit sie auch bei Sturmfluten nicht untergeht: Hier werden solche Bauten "Schlengenbude" genannt. Im Innern sieht es aus wie in einer grossen Baubaracke aus den 70er-Jahren. Es ist alles etwas marode, aber noch brauchbar. Beim Duschen fördert die Pumpe das warme und das kalte Wasser alternierend, ab Windstärke 7 beginnt der Kaffee in der Tasse Wellen zu schlagen und ab Windstärke 8 sind wir angewiesen, die Bude zu verlassen, weil das Ganze zusammenbrechen könnte. Bei Hochwasser lecken die Wellen den Sand inzwischen bis unter die Stelzen weg. Noch im Sommer hiess es, es solle wieder Sand aufgeschüttet werden, damit das Ganze nicht plötzlich in die Nordsee kippt. Aber möglicherweise war 2019 die letzte Saison der Naturschutzwarte in der Schlengenbude. Auf Ende September wurde ihnen der Mietvertrag gekündigt und es ist offen, was mit dem Gebäude geschieht. Die Vogelschützer waren in den vergangenen Jahren Gäste des Wasserstrassen- und Schifffahrtsamtes, dem die Unterkunft gehört und dessen Techniker gelegentlich darin übernachten. In der Küche der Vogelwarte gibt es zwei Herdplatten und einen halb kaputten Kühlschrank. In den Schränken stapelt sich die Hinterlassenschaft der Vorgänger von gefühlt hundert Jahren. Dafür hat die schlingernde Schlengenbude einen Rundumbalkon, von dem aus man einen tollen Ausblick auf die Insel und das Fahrwasser hat.

Lange Flure mit Zimmertüren, eine kleine Küche für die Vogelwarte und mein Zimmer für einen Inselsommer.


Zu Fuss auf die Insel

Das geht: Ab Schillig kann man in rund anderthalb Stunden über das Watt nach Minsener Oog wandern. Es gibt im Sommer auch immer wieder Humoristen, die mal schnell in der Badehose herüberkommen. Einmal kam einer bei sengender Sonne auf einer ungewöhnlichen Route zur Insel. Auf die Frage, ob er sich mit den Betretungsregeln im Naturschutzgebiet auskenne, entgegnete er: "Sehe ich so aus?". Nun ja, er sah eigentlich eher so aus, als wäre er sei er aus einem Naturschutzgebiet abgehauen: Splitterfasernackt und ohne irgend etwas bei sich zu haben. Wer mit dem Watt nicht vertraut und einigermassen bei Trost ist, geht eher nicht nackt und schutzlose, sondern mit einer Wattführerin oder einem Wattführer über den weiten Sand. Denn so harmlos, wie es aussieht, ist das Watt nicht. Ein paar hundert Meter draussen wird man es schon merken. Es gibt Schlickzonen, in denen man tief einsinkt und kaum mehr rauskommt. Es gibt Priele, die durchquert werden müssen, wobei man im trüben Wasser nicht sieht, wie tief es ist und wie es weitergeht. Und falls urplötzlich ein Seenebel aufzieht oder das Wetter sich verschlechtert, weiss nicht mal mehr der Profi ohne Kompass, wo Norden liegt. Dazu empfiehlt es sich, geeignetes Schuhwerk zu tragen: Im Sand stecken pazifische Austern und Herzklaffmuscheln, die schon so manches Kneipp-Erlebnis in einen Aderlass verwandelt haben. Während der Saison werden wöchentlich mehrere Wattwanderungen zum Minsener Oog mit geprüften Wattführerinnen und Wattführern angeboten. Hier die Seiten der Wattführer Jens Schake, Gerke Enno Ennen und Jürgen Wackwitz. Die Vogelwarte sind dann die Attraktion am Wendepunkt des Ausflugs, erzählen euch je nach Tagesform über die Insel und betteln euch zum Schluss noch um Geld für den famosen Mellumrat an.

Links: Wattführer Gerke Enno Ennen zeigt, wie hoch das Wasser bei Flut hier stehen wird. Mitte: Der Priel vor Minsener Oog ist die Schlüsselstelle. Wer den  Weg kennt, wird weniger nass. Rechts: Eine Wattwandergruppe macht Rast am Südstrand der Insel.


Von links: Ein Plattformschiff für den Bau von Windkraftanlagen kreuzt einen Frachter. Das Versorgungsschiff "Bonn" der Marine läuft aus. Die "Nordsee" unterhält an 363 Tagen im Jahr während 24 Stunden die Fahrwasser für die grossen Schiffe. Ein Versorgungsschiff für Ölplattformen nimmt Kurs auf das offene Meer. Ein schwimmendes Parkhaus bringt asiatische Autos für Europa nach Bremerhaven. Eine in Bremerhaven gebaute Luxusjacht wird vor Minsener Oog getestet, bevor sie für viel Geld gechartert werden kann. Die Küstenwache kreuzt gleich mit zwei Schiffen vor Minsener Oog. Das Kreuzfahrtschiff Costa Mediterranea auf dem Weg nach Holland. Und jede Menge Fracht- und Containerschiffe.

Schwerverkehr auf dem Wasser

Vor Minsener Oog befindet sich eine schmale Schiffspassage, auf der die zum Teil riesigen Containerschiffe innert kurzer Zeit drei Kurswechsel vornehmen müssen. Das ist auch der Grund, weshalb auf der Insel ein fast 60 Meter hoher Radarturm steht. Etwas weiter aussen sind die Schifffahrtsstrassen nach Bremerhaven und Hamburg und hinter der Insel Wangerooge im Westen liegen jeweils die Schiffe vor Anker, die auf Fracht oder einen Hafenplatz warten müssen. Vor unseren Fenstern kommen also die unterschiedlichsten Schwertransporte und Spezialfahrzeuge vorbei: Containerschiffe von 300 Metern Länge, Fregatten der Marine, riesige fensterlose schwimmende Parkhäuser für den Autoimport, Kreuzfahrtschiffe, Luxusjachten, Küstenwache, Segelboote, Plattformschiffe für den Bau von Windrädern, die höher sind als lang und immer wieder die "Nordsee", ein Saugbaggerschiff, das an 363 Tagen im Jahr Sand aus dem Fahrwasser der Schiffe spült.


Ebbe und Flut

Unser Alltag auf der Insel wird von drei Faktoren bestimmt: Der Naturschutzbürokratie, dem Wetter und den Gezeiten. Von der Ebbe bis zur nächsten Flut verstreichen immer etwas mehr als sechs Stunden. Ist heute um 9:00 Uhr Niedrigwasser, ist morgen um ca. 9:30 Uhr Niedrigwasser. Die genauen Zeiten folgen irgendwelchen mysteriösen Gesetzmässigkeiten, welche diejenigen Leute kennen, die weit im Voraus die auch im Internet abrufbaren Gezeitenkalender berechnen. Aber Flut ist nicht Flut und Ebbe nicht Ebbe. Beide Gezeiten können um einen Meter variieren und das macht nicht nur optisch ganz schön etwas aus. Ob die Flut hoch, die Ebbe niedrig ausfällt, hängt von der Topographie, Stärke und Richtung des Windes ab. Noch wichtiger ist der Einfluss des Mondes. Bei Voll- und Neumond schlagen die Gezeiten stärker aus, das sind die sogenannten Springtiden. In den Zwischenphasen ist die Kurve flacher, das sind die Nipptiden. Und wenn das Wasser ganz übel hoch kommt, nennt sich das eine Sturmflut, was wir bisher zum Glück noch nicht erlebt haben. Wir orientieren uns zum Beispiel auf dieser und dieser Webseite über die erlebten und zu erwartenden Gezeiten. Die nachfolgenden Zeitrafferaufnahmen vermitteln ein Bild vom Wechsel der Gezeiten auf Minsener Oog.


Ausflüge in Ostfriesland

Nach Ostfriesland fahre ich nicht wegen einzelner Attraktionen. Die hiesige Küste und das Wattenmeer an sich sind die Attraktion. Der stetige Wechsel von Gezeiten, Licht, Wind und Wetter, die Farben, die Weite und die Kraft dieser Landschaft sind wahrlich Grund genug, herzukommen. Aber es lohnt sich, einmal auf eine der Inseln zu fahren. Ich war noch nicht auf allen und sie sind im Grundsatz alle schön mit ihren wilden Stränden zur offenen See und ihren welligen Dünenlandschaften Richtung Festland. Die Mehrheit der Inseln habe ich aber gesehen und dabei gefiel es mir auf Baltrum am besten. Ideale Grösse für einen Tagesausflug, alles zu Fuss erreichbar und gefühlt weniger touristisch als die anderen. Darüber hinaus: Auf der Hinfahrt kommt man einer grossen Seehundbank näher als bei allen teuer bezahlten Seehundtouren. Daran denken, dass der Fahrplan der Fähren täglich mit den Gezeiten ändert. Sollte das Wetter mal so schlecht sein, dass selbst Friesland nicht mehr gut aussieht, lohnt sich auch ein Besuch im Marinemuseum von Wilhelmshaven. Dort stehen neben vielen anderen interessanten Ausstellungsstücken auch ein riesiger Zerstörer und ein Unterseeboot, die man beide von innen besichtigen kann. Man bekommt dabei eine minimale Ahnung davon, was es bedeutet, wenn man mit einer solchen Konservenbüchse in einen Bombenhagel gerät.


Die letzten Überreste der Inselbahn: In einem Schuppen steht die Lok des "Minsener Oog Express". Das letzte noch halbwegs intakte Gleis ist jenes auf den Anleger. Es wird vor allem mit der Lore befahren. Im Nordwatt versinken die Geleise im Sand. Bei den Schuppen nagt der Zahn der Zeit. Davor versinkt ein eigentlicher Bahnfriedhof allmählich im Boden.

Eine versunkene Inselbahn

Die Gebäude auf Minsener Oog befinden sich alle in unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien des Zerfalls. Zu den Besterhaltenen gehört ein kleiner Schuppen auf der Anhöhe, in dem eine hübsche kleine Lokomotive mit der Aufschrift "Minsener Oog Express" steht. Sie soll noch fahrtüchtig sein. Das einst 10 Kilometer lange Schienennetz auf dem die Materialbahn in ihren besten Zeiten mit zwei Lokomotiven verkehrte, ist allerdings weitgehend im Sand versunken, verrostet oder schon ganz weggespült worden. Nur die Strecke von der Unterkunft bis zum Anleger, auf der wir auch mit der Lore Material transportieren, kann noch befahren werden – wenn auch nur bis 50 Meter vor die Anlegestelle, wo die Geleise abrupt aufhören. Die Inselbahn diente im Krieg als Transportmittel zu Flak-Geschützen und Scheinwerferständen und später als Arbeitsgerät für die Buhnenwärter, die im Zweischichtdienst bis 1998 auf der Insel gearbeitet und gelebt haben. Details zur Geschichte der Bahn und zum gescheiterten Plan, sie bis nach Wangerooge zu verlängern, finden sich auf der Website Inselbahn



Hotel in der Nähe

Für Inselbesuche ist es inzwischen zu spät, aber das Wattenmeer bei den ostfriesischen Inseln ist auch so eine Reise wert. Wer es gern schön hat, dem empfehle ich das Hotel, das in meiner persönlichen Bestenliste auf Platz 1 liegt. Das Nakuk in Horumersiel liegt idyllisch ausserhalb des Dorfes in einem ehemaligen Landwirtschaftsbetrieb, der mit natürlichen Baustoffen sorgfältig umgebaut worden ist. Zudem hat es einen Garten, der selbst ein kleiner Nationalpark ist. Für einen Vogelwart ist interessant, dass sich hier von Waldohreule über Ringeltaube und Goldhähnchen bis zum Zilpzalp eine multikulturelle Vogelschar in Büschen und Bäumen tummelt. Andere dürfen es als Indiz dafür nehmen, dass dieser Garten naturnah ist. Hier haben kreative Unternehmerinnen und Unternehmer ohne behördlichen Zwang einfach aus Überzeugung und Freude viel für einen intakten Lebensraum getan. Das Nakuk ist Partner des Nationalparks, fördert den nachhaltigen Tourismus und kauft in der Region ein. Vor allem aber ist es ein hervorragendes Hotel mit einer unglaublich gastfreundlichen und sympathischen Belegschaft, geschmackvollen modernen Zimmern und einer absolut hammermässigen Küche, die meine eiserne Regel, nie im Hotel zu essen ins Gegenteil verkehrt hat: Hier esse ich nur im Hotel!


10'000 Brachvögel im Watt

Am letzten Tag vor meiner Abreise hat es doch noch geklappt. Die Flut stieg endlich hoch genug, um wenigstens einen kleinen Trupp grosser Brachvögel halbwegs in die Nähe zu treiben. Die grossen Brachvögel kommen nach Minsener Oog, um weit draussen im Watt in Ruhe ihr Gefieder zu erneuern, oder zu "mausern" wie es richtig heisst. Im Moment sind es zwischen 6000 und 10'000 täglich. Bei der Mauser fallen ihnen grosse Schwingfedern aus und es wachsen neue nach. Deshalb sehen die Vögel auf den Bildern unten zum Teil richtig struppig aus. In dieser Zeit sind sie verletzlich. Nur wenn das Wasser hoch genug steigt, kommen sie notgedrungen in die Nähe des Strandes. Die Brachvögel erkennt man an ihrem charakteristischen langen, nach unten gebogenen Schnabel und an ihrem musikalischen Ruf. Im Kosmos Vogelführer, der Bibel der Vogelfreunde, ist er als "laut, weit tragend, etwas wehmütig" beschrieben. Auch an der Küste sind die Brachvögel besonders oft in der Dämmerung zu hören. Dann untermalt ihr Flöten und Trillern den Sonnenuntergang. Es gibt den grossen Brachvogel und den Regenbrachvogel. Das obere Bild zeigt eine Variante: Grosse Brachvögel im Regen.


Alles ist verstrickt

Dieser Eiderentenmann hat sich in einem angespülten Netzteil so gründlich verstrickt, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Der Müll, der täglich an die Strände gespült wird, erzählt ganze Bände über die Kehrseiten von Fischerei, Schifffahrt und Tourismus. Vögel verfangen sich regelmässig in Schnüren und Netzen, in den Nestern findet man allerhand Plastikteile und Lebensmittelverpackungen, die entweder für den Nestbau verwendet oder manchmal auch an die Küken verfüttert wurden. Auf Minsener Oog wird auf definierten Strandabschnitten regelmässig aller Müll eingesammelt. Nicht um sauber zu machen, das wäre Sisyphus-Arbeit. Gesammelt wird im Rahmen eines länderübergreifenden Müllmonitorings. Diese Untersuchungen liefern die Fakten für Gespräche zwischen Naturschutz und Schifffahrtsindustrie oder Tourismusorganisationen, was auch schon zu punktuellen Verbesserungen geführt hat. Meeresmüll, auch das noch viel heimtückischere Problem mit Mikroplastik, ist ein grosses Thema in Norddeutschland. An den Stränden von Minsener Oog liegen regelmässig Müllopfer. In den Nestern der Heringsmöwen finden sich neben Krabbenbeinen aus der Nordsee auch Lebensmittelverpackungen und Schweineknochen aus Abfallkörben oder Deponien. Dafür hatte die Eiderente auf dem oberen Bild das Glück, rechtzeitig entdeckt und mit einem scharfen Messer befreit worden zu sein. Die Wahrscheinlichkeit dafür war etwa so gross wie auf den Hauptgewinn im Lotto. Erst stellte sie sich tot, aber als ich zehn Schritte von ihr entfernt war, wurde sie auf einen Schlag wieder quicklebendig.


Erst noch eine Flaumkugel, jetzt schon fast ein Sandregenpfeifer. Das letzte Strandbrüterküken (links) auf der Insel ist flügge, wird aber von den Eltern immer noch scharf bewacht.

Das letzte Küken

Erst spät, vermutlich war es ein zweiter Anlauf, haben im Juni zwei Sandregenpfeifer mit der Brut begonnen. Es schien unwahrscheinlich, dass die daumengrosse Flaumkugel auf zwei staksigen, aber flinken Beinen lange überleben würde. Das Leben auf dem Strand ist hart. Am Boden nichts als Sand, Muscheln, Treibgut und ein paar niedrige Pflänzchen. Sobald der Wind etwas auffrischt, wird alles sandgestrahlt, was weniger als 30 Zentimeter hoch ist. Wenn der Wind über den trockenen Sand peitscht, stellen sich Seeschwalben und Sandregenpfeifer alle frontal zur Windrichtung. Das ist wie fliegen am Boden und bei Gefahr breiten sie nur die Flügel aus und der Wind wirft sie hoch. Deshalb sah ich schwarz für ein flugunfähiges Küken inmitten von hungrigen Halbwüchsigen. Aber die Sandregenpfeifer haben ganze Arbeit geleistet. Der Nachwuchs fliegt bereits. Trotzdem hat er immer noch jederzeit einen Bodyguard dabei.

Flink wie Mäuse rennen die Sandregenpfeifer auch bei Sandsturm über den Strand.


Die ersten Löffler haben auf Minsener Oog gebrütet.

Den Löffel stets dabei

Wenn dieser Vogel mit gestreckten Beinen und gestrecktem Hals vorbeisegelt, sieht er aus wie ein fliegender Daniel Düsentrieb mit einem Löffel im Mund. Das liegt einerseits an seinem flatternden Schopf und zum andern an seinem vorne sich verbreiternden Schnabel, der ihm den Namen gab: Löffler. Auch wenn er in seichtem Gewässer nach Nahrung sucht, ist er von weitem erkennbar. Dann steckt er den Schnabel ins Wasser, schreitet mit seinen Stelzenbeinen zügig voran und schwenkt den Kopf, als fühlte er sich unbeobachtet und würde zur Musik in seinen Kopfhörern tanzen. Diese markanten Eigenschaften haben aus den Löfflern VIP's unter den Küstenvögeln gemacht. Vor nicht allzulanger Zeit waren sie stark gefährdet – jetzt breiten sie sich wieder aus. Vor allem dank strengem Schutz und geeigneten Brutplätzen im Nationalpark. Es passt ins Bild, dass diesen Sommer erstmals ein Löfflerpaar auf Minsener Oog gebrütet und zwei Junge aufgezogen hat. Dies obwohl die hiesigen Brutplätze nach Löfflermassstäben als minderwertige Wohnlage gelten dürften. Aber ein junges Paar muss manchmal nehmen, was es bekommt. Vielleicht haben die beiden eine neue Kolonie begründet. Die zwei Junglöffler auf dem Bild sind jedenfalls die ersten, die auf Minsener Oog aus dem Ei gekrochen sind. Hier sind sie bereits fast flügge und zu Fuss schon rasend schnell im hohen Gras unterwegs.

Die beiden ersten Minsener Löffler sind inzwischen ausgeflogen. Die Jungtiere mit den schwarzen Flügelspitzen haben sich grösseren Gruppen angeschlossen.


Tarnzelt stationär und mobil.

Inselgeheimnisse

Auf einer Insel fühlt man sich weniger beobachtet, obwohl das vielleicht gar nicht stimmt. Hier tut man als erwachsener Mann Dinge, die man zuhause eher nicht tun würde. Und das lustigerweise, um seinerseits zu beobachten: Man setzt sich zum Beispiel stundenlang in ein Tarnzelt, um auf Vögel zu warten, die dann doch nicht kommen. Die Steigerung ist der selbstgebaute mobile Beobachtungsstand auf dem Wattwagen. Der begnadete Naturfotograf Volker Lautenbach, den ich bei meinem ersten Besuch auf  Minsener Oog kennengelernt habe, hat dieses raffinierte Gefährt gezimmert. Man setzt sich mit der Kamera rein und bewegt sich mit den Füssen fort. So nähert man sich im Watt den Vögeln an, ohne dass die aufschrecken. Es sieht zwar bescheuert aus, aber zumindest Volker sind aus diesem lumpigen Vehikel ein paar grossartige Bilder gelungen. Ich bin noch am Üben.


Ein praktisches Gefährt

Acht gelb bemalte Stahlstangen haben während der Brutzeit die Südspitze als No-Go-Area gekennzeichnet. Jetzt ist die Brutzeit um und die schweren Dinger müssen wieder unter Dach. Was für ein Segen, dass es hier einen Wattwagen gibt. Sind sie mal geladen und ausbalanciert, gehts so einfach wie mit einem Kinderwagen über den kilometerlangen Strand. Die Wattwanderer dürfen jetzt die Südspitze und den unteren Teil der Insel wieder betreten. Bald beginnt die Zugvogelsaison. Bereits angekommen sind grosse Brachvögel aus dem Norden, von denen sich bei Hochwasser bereits mehrere tausend im Watt versammeln. Auch die Austernfischer bilden immer grössere Schwärme. Während es im Inselinnern ruhiger wird, herrscht jetzt bei Hochwasser an den Stränden ein Treiben wie auf dem Bahnhof.


Die Gaukler vom Teich

Die Rohrweihen sind grosse Raubvögel, die man, wenn sie in der Höhe kreisen, auch mal mit einem Adler verwechseln kann. Meistens segeln sie aber dicht über dem Boden, wenn sie nach Beute Ausschau halten. Bei ihren Manövern wirken sie etwas schlaksig und ungelenk. Aber das sieht bloss so aus. Auf Minsener Oog wohnen die Rohrweihen mitten auf der Insel beim einzigen Süsswasserteich. Dort ist irgendwo im Röhricht ihr Nest versteckt, das sie während der Brutzeit in spektakulärem Schaukelflug durch das Gehölz anfliegen. Gegen Ende Juli sind die drei jungen Rohrweihen bereits fliegend unterwegs und versuchen, im Gras einen Jungvogel oder ein Kaninchen zu erwischen. Allzu erfolgreich sind sie noch nicht. Wann immer einer der Altvögel auftaucht, fliegen die Jungen bettelnd auf. Vater oder Mutter lassen dann aus grosser Höhe einen leckeren Bissen fallen. Anfangs balgte sich der Nachwuchs am Boden im hohen Gras um die begehrten Stücke. Mit der Zeit lernte er, sich das Futter schon in der Luft zu schnappen. Aber nicht nur bei diesen Luftbetankungen bieten die Rohrweihen im Inselinnern spektakuläre Flugshows. Vor allem abends sind die Jungvögel zum Spielen aufgelegt und liefern sich immer wieder akrobatische Verfolgungsjagden und kleine Luftkämpfchen. Der Ernst des Lebens kommt noch früh genug.


Zitronen des Nordens

Die Vegetation der Insel besteht zur Hauptsache aus zähem Gras. Zu grossen Teilen handelt es sich um Strandhafer. Im Inselinnern wurden seinerzeit bei der Sandaufschüttung zahlreiche verschiedene Weidensorten und Pappeln gepflanzt. Die Pappeln haben die Naturschützer entfernen lassen. Die meisten Weiden sterben zurzeit von alleine. Über die Gründe wird spekuliert. Die einen behaupten, sie hätten bei einer Sturmflut Salzwasser erwischt. Die andern sagen, es sei der Klimawandel. Dritte halten die wasserliebende Weide auf einem trockenen Sandhaufen für wenig standortgerecht. Ohne menschliches Zutun gewachsen sind diverse Holundersträucher und vor allem der Sanddorn. Von allen Gehölzen sieht der Sanddorn am besten aus, obwohl auch ihm die extrem trockenen Sommer 2018 und 2019 zugesetzt haben. Ab August reifen die orangen Beeren, die aus geschmackstechnischen Gründen auch "Zitrone des Nordens" genannt werden. Aber Einheimische versichern, die sauren Früchte seien enorm gesund und für vieles verwendbar.



Zwischen Himmel und Erde

Für einen Binnenländer wie mich ist das Watt etwa so geheimnisumwoben wie ein Gletscher für einen Holländer. Das Watt sieht harmlos aus, aber wer ihm nicht den gebührenden Respekt entgegenbringt, den kann es ganz schnell das Fürchten lehren. Es kostete mich etwas Überwindung, das erste Mal allein mit einem gefüllten Rucksack über den weiten Sand auf die Insel zu gehen, obwohl ich zuvor in unserem Inselverantwortlichen einen guten Lehrmeister hatte. Nimmt man den direkten Weg, ist man in ungefähr einer Stunde am Priel direkt vor der Insel. Ist er durchquert, ist man am Ziel. Ab dem zweiten Mal wird die einsame Wattwanderung zum meditativen Erlebnis. Es gibt wohl wenige Orte auf der Welt, an denen mensch so winzig zwischen Himmel, Wasser und Erde trippelt. Die Schiffe am Horizont sind gewissermassen auf Augenhöhe. Schon wenige hundert Meter nach dem Strand sieht alles ganz anders aus. Rundherum ist endlose Weite und der vermeintlich homogene Sand wird zu einem Universum von Wasseradern, Schlickzonen, Muschelbänken und Lichtwechseln. Man muss da durch sein, bevor die Flut kommt. Hier tickt nicht nur die Uhr, hier steigt auch das Wasser.


Der Leuchtturm Hoher Weg kurz vor Niedrigwasser.

Auch der Vogelwart will fliegen

Wenn man ständig Vögeln beim Fliegen zusieht, möchte man gerne wissen, wie das alles eigentlich von oben aussieht. Zum Schluss meines Aufenthaltes auf Minsener Oog habe ich deshalb einen Rundflug über das Watt gebucht. Das ist zwar kein billiges Vergnügen, aber eines, das jeden Euro wert ist. Aus der Vogelperspektive wird sichtbar, was für eine Naturgewalt im Wattenmeer am Werk ist. Der Mensch muss sich einigeln und festkrallen, um ihr standzuhalten. Aus der Luft sieht das Watt aus, wie ein gewaltiger Organismus mit einem mächtigen Kreislauf. Es war schön, zum Abschied noch einmal eine Runde über dem Minsener Oog zu drehen. Auf den Bildern ist das Minsener Oog mit seiner schwungvollen Südspitze zu sehen. Zu sehen sind auch die stachlige Westseite der Insel Wangerooge, trocken gefallene Boote vor Minsener Oog, zwei Wattwandergruppen aus der Seeadlerperspektive, die Hafenanlagen von Wilhelmshaven mit dem Nationalparkhaus und dem Marinemuseum im Vordergrund und das Flugzeug, mit dem uns Pilot Heiko Lenkewitz sicher über das Wattenmeer geflogen hat.


Kunst am Bau

Während sich draussen stählerne Schienen durch die Gewalt der Sturmfluten verbogen und im Sand versanken, ist die Zeit in der Unterkunft stehen geblieben. Als stiller Beleg für einstige Bedeutung schmückt das Porträt eines mit Orden dekorierten Mannes die weisse Wand im Flur. Er soll einmal der Chef auf dem Strombauwerk gewesen sein, als hier noch viele Arbeiter und Soldaten untergebracht waren und die Inselbahn über die Buhnen ratterte. Der flott gereimte Appell an der Wand im anderen Flur zeugt von einer gänzlich frauenlosen Zeit im Inselreservat. So still wie heute war es damals abends wohl kaum.



So sah der Himmel über Minsener Oog kurz nach Mitternacht am 22. Juni aus.

Leuchtende Nachtwolken

In der Mittsommernacht vom 21. Juni war der Nachthimmel auch um 23.30 Uhr nicht dunkel. Vielmehr leuchtete er in einem unwirklichen, weiss-blauen Licht und es sah aus, als bestünde das Himmelszelt tatsächlich aus einem Stoff, der Falten wirft. Das Naturphänomen heisst "leuchtende Nachtwolken". In einer Höhe von über 80 Kilometern kristallisieren gemäss neusten Theorien kleinste Teilchen von Meteoritenstaub bei etwa minus 140 Grad und werden von flach einfallendem Sonnenlicht erleuchtet. Oder irgendwie so. Fest steht, dass die leuchtenden Nachtwolken schön aussehen und in der selben Zone leuchten, in der auch die Sternschnuppen verglühen.


Die Tiere auf der Insel

Minsener Oog ist wie ein grosser Bahnhof. Das ganze Jahr über herrscht ein Kommen und Gehen von kleinen und grossen Vögeln. Daneben gibt es aber auch so etwas wie eine einheimische Bevölkerung, die hier Kinder aufzieht. Es ist ähnlich wie auf den anderen ostfriesischen Inseln bei den Menschen: Es gibt ein paar Insulaner und zu den Ferienzeiten wächst die Bevölkerung von Wangerooge bis Borkum für ein paar Wochen auf das Mehrfache an. Wer auf der unbewohnten Vogelschutzinsel zu den Insulanern gehört, ist Definitionssache. Hier eine subjektive Auswahl der Belegschaft, die das Inselbild während meines Aufenthaltes geprägt hat. Weitere Bilder dieser und weiterer Vögel sind in den Galerien zu finden.

Kaninchen Die Insel ist übersät mit ihren Bauten. Wo immer man geht, flüchten Kaninchen in alle Richtungen. Sie sind inzwischen mindestens so scheu wie wilde Hasen. Dabei stammen sie von den Kaninchen der Buhnenwärter ab, die sie in die Freiheit entliessen, als sie von der Insel abgezogen wurden. Die Kaninchen sind weitgehend die einzigen Säugetiere im Inselinnern. Vielleicht gibt es noch ein paar Mäuse. Im Frühling verirrte sich für ein paar Tage ein Rehbock übers Watt. Und einmal tauchte nachts eine Nutria oder Bisamratte auf. Aber den Ton geben hier die Vögel an.

Seehunde Der zweite Fellträger ist kein Inselbewohner, sondern ein Meeresbewohner. Meist liegen im Westen der Insel bei Niedrigwasser um die 50 Seehunde auf einer vorgelagerten Sandbank. Und ab Juni liegen immer mal wieder junge Seehunde am Strand von Minsener Oog selbst.

Hohltauben In der Natur zieht eine Veränderung meist weitere nach sich. Nachdem sich die Kaninchen ausgebreitet hatten, kamen die Tauben auf die Insel. Die Hohltauben, die in Höhlen brüten und es sich in verlassenen Kaninchenbauten einrichten. Sie leben auf der ganzen Insel und sind ständig auf der Flucht vor Wanderfalken und Weihen. Ich habe noch nie Tauben gesehen, die so schnell fliegen können.

Brandgänse Eine andere Kaninchenbaubrüterin ist die Brandgans oder Brandente. Der auffällig gefärbte Vogel ist an der Küste überall zu sehen. Trotzdem ist in Ornithologenkreisen noch immer umstritten, ob es sich um eine Gans oder um eine Ente handelt.

Wiesenpieper Der typische Vogel im Inselinnern ist der Wiesenpieper, der überall im Gras brütet. Obwohl es unzählige von ihnen gibt, ist sein Nest fast nicht zu entdecken. Der Wiesenpieper ist ein Tarnungs- und Ablenkungskünstler.

Wanderfalken Sie sind eigentlich Felsenbrüter wie die Adler. Sie stürzen sich von hohen Horsten in die Tiefe, um nach fetten Tauben zu jagen. Auf Minsener Oog können sie lange nach hohen Felsen suchen. Aber fette Tauben hat es genug. Hier brüten sie deshalb am Boden, was besonders ist. Betritt jemand im Frühling das Brutrevier, stehen Herr und Frau Wanderfalke in sicherer Flughöhe über dem Eindringling in der Luft und geben so nervtötende Warnrufe von sich wie ein Auto, in dem ein Fahrgast die Sicherheitsgurten noch nicht montiert hat. Lustig wird es, wenn die Jungen das Nest verlassen, um im flachen Sandwatt das Fliegen zu erlernen. Dann rennen sie wie Hühner herum und probieren trotzig, bis sie endlich ein paar Meter schiefen Flug schaffen. Aber schon nach wenigen Tagen sind sie veritable Kampfpiloten.

Rohrweihen Die Raubvögel mit der imposanten Spannweite haben in diesem Frühling drei Junge aufgezogen, die jetzt ebenfalls täglich im Tiefflug über das hohe Gras gaukeln. Nicht von Anfang an waren sie erfolgreiche Jäger. Vielmehr warteten sie die meiste Zeit darauf, dass ihnen die Eltern Futter abtreten. Bei den Rohrweihen gibt es die Luftbetankung schon lange. Dann werfen Mutter oder Vater den drei Jungvögeln weit oben in der Luft einen Happen vor die Greifer.

Eiderenten brüten zahlreich auf Minsener Oog. Noch zahlreicher kommen sie für die Mauser auf die Insel. Im Sommer sind bei Hochwasser etwa 1000  Eiderenten an den Stränden, die die Ruhe hier brauchen, um ihr Gefieder zu erneuern. In der Mauser sehen die Männchen etwas scheckig aus.

Austernfischer Zur festen Belegschaft gehört auch der Austernfischer, der zahlreich brütet und auch immer wieder in grossen Schwärmen von weit über 1000 Tieren auf der Insel rastet. Der Austernfischer ist gewissermassen die Elster der Küste. Er ist auffällig gezeichnet und schlägt ständig Radau – so verschafft man sich Bekanntheit bei den Menschen.

Sie geben der Insel ihr Gepräge: Die verschiedenen Möwen, die auf Minsener Oog brüten, bei Wind in der Luft zu stehen scheinen und während 24 Stunden ihre charakteristischen Rufe ertönen lassen. Insbesondere die Grossmöwen, die Heringsmöwe (1) und die Silbermöwe (2), bringen locker ein Kilo auf die Waage, haben nicht gerade einen freundlichen Gesichtsausdruck und können ganz schön unangenehm werden, wenn sie angreifen. Sie sind auch für die kleineren Möwen und Seeschwalben, ja selbst für die eigenen Nachbarn in der Kolonie, eine mindestens so grosse Bedrohung wie die paar Greifvögel.

Weniger gefährlich wirken die zierlicheren Sturmmöwen (1) und die Lachmöwen (2), die in dichten Kolonien brüten, während die Grossmöwen eher lose Gemeinschaften mit mehr Abstand zwischen den Nestern bilden. Besonders die Lachmöwenkolonien wirken während der Brutzeit wie grosse Vogel-Slums, in denen es drunter und drüber geht und keiner den Dreck wegräumt.

Mitten in die Kolonien von Lach- und Sturmmöwen schummeln sich auch immer wieder einige der hübschen Schwarzkopf-Möwen – einer Art, die eigentlich im Mittelmeerraum zuhause ist und erst seit einigen Jahren so weit nördlich brütet.

Rauchschwalben sind zahlreich bei der Unterkunft unterwegs, weil sie ihre Nester gern an Häusern und Schuppen bauen. Aber auch im dichten Gehölz beim Teich haben die schillernden Vögel mit dem eckigen Flug erfolgreich gebrütet. Unermüdlich ziehen sie ihre Bahnen, um im Flug Insekten zu fangen. Und bei sonnigem Wetter bräunen sie auf dem Geländer der Unterkunft die Kehle.


Ein Refugium der Seeschwalben

Die obige Liste der Tiere ist nicht nur unvollständig, in ihr fehlen auch die Hauptdarsteller: Minsener Oog ist naturschützerisch vor allem wegen der Seeschwalben bedeutend. Seeschwalben brüten alle in Kolonien. Kolonien brauchen Platz und Ruhe. Das Wichtigste ist, dass es weder Füchse noch Katzen, Hunde, Dachse oder Ratten gibt, die sich über die Nester hermachen. Die meisten Kolonien von Möwen und Seeschwalben sind bei der Unterkunft, obwohl es ruhigere Plätze gäbe. Das war auch schon so, als hier noch jeden Tag Buhnenarbeiter ein und aus gingen. Auch die vom Aussterben bedrohten Zwergseeschwalben halten sich nicht an ausgefeilte Schutzkonzepte und brüten an exponierten Plätzen statt an ruhigen Orten.

Seeschwalben sind faszinierende Tiere, die perfekt an das Leben in der Luft angepasst sind. Sie sind grandiose Flieger, eigentliche Luftwesen, die mal mit dem Wind tanzen, mal in Schwärmen Figuren in den Himmel malen oder sich als pfeilschnelle Geschosse ins Wasser stürzen, um nach Fischen zu jagen.

Die Flussseeschwalben

Flussseeschwalben sind zierliche Vögel, aber wenn wir im Dienst der Wissenschaft ihre Kolonie betreten, werden sie ganz schön rabiat. Ohne Hut und Kapuze gäbe es ein Blutbad. Wie kleine Kampfflugzeuge stürzen sie sich auf die Köpfe und nebenbei scheissen sie den Eindringlingen gehörig auf die Kappe. Darum ist jeder Besuch in der Kolonie zwar faszinierend, aber auch im wahrsten Sinn des Wortes ein Spiessrutenlauf. Wie der Himmel über dem Kopf aussieht, wenn Störenfriede in der Kolonie sind, zeigt dieses Video:

Die Zwergseeschwalben

Die Zwergseeschwalben werden auf Minsener Oog gehütet wie ein Juwel. Sie sind so streng geschützt, weil sie vom Aussterben bedroht sind und es im Wattenmeer nur noch wenige Brutpaare gibt. Auf Minsener Oog brüten sie inmitten einer grösseren Kolonie von Küstenseeschwalben. Ihre "Nester" – sie bestehen aus einer Kuhle im Sand – sind aus der Distanz, auch wenn sie drin sitzen, nur schwer zu erkennen. Wenn sie mit rhythmischen, aufreizend langsamen Flügelschlägen in der Luft sind, wirken sie elfenhaft.

Die Küstenseeschwalben

Die Küstenseeschwalben sind die Langstreckenflieger unter den Seeschwalben. Im April kommen sie auf Minsener Oog an, im August machen sie sich schon wieder auf den Weg. Den Winter verbringen sie in der Antarktis, nachdem sie der gesamten afrikanischen Westküste entlanggereist sind. Während der Brutzeit verteidigen sie ihre Kolonie mit allen Mitteln. Kaum überfliegt eine grosse Möwe die Dünenkante, schnellen sie gemeinsam hoch und greifen den Eindringling aus allen Richtungen an.

Die Brandseeschwalben

Die Brandseeschwalben sind schrill und immer in Bewegung. In ihrer Kolonie ist während der ganzen Brutzeit der Teufel los. Ein fortwährendes Fischherbeischaffen, streiten, kreischen, balzen und herumtrippeln. In der Dämmerung steigen sie manchmal 20mal und öfter unter Getöse und ohne ersichtlichen Grund auf, um synchron ein paar grosse Achten in den Abendhimmel zu schreiben. Wenn sie die Brust stellen, die Flügel breit hängen lassen und den Kopf mit ihren Fussballerfrisuren nach hinten werfen, muss man sagen: Sie sind die Wichtigtuer unter den Seeschwalben.


Es war keine Bombe: Die Kampfmittelbeseitiger kehren wieder zurück zum Schiff.

Bomben entschärfen in der Ruhezone

Die Insel gehört zur Ruhezone des Nationalparks. Sie ist eine Oase inmitten von geschäftigem Treiben, wie das Innere eines Verkehrskreisels. Westlich und südlich befinden sich Touristenorte, nördlich und südlich stark befahrene Wasserstrassen. Im Krieg war Minsener Oog wichtig für den Schutz des Marinehafens in Wilhelmshaven. Entsprechend gibt es neben gesprengten Bunkern hier auch sonst vermutlich noch Altlasten. Am 3. Juni landet ein Schlauchboot mit Spezialisten, die sofort damit beginnen, direkt unter der Unterkunft Metallteile freizulegen. Erst als sie hochkommen, erfahren wir: Es war zum Glück keine Bombe, sondern eine Baggerkupplung, die unter der Küche lag. Leute des WSA hatten das verdächtige Teil am Freitag zuvor gesehen und sind am Montag mit den Bombenentschärfern aufgetaucht. Der Mann vom Kriegsmittelräumdienst ist etwas enttäuscht, dass es nichts zu sprengen gibt. Das dürfte sich im Herbst ändern. Dann sollen im Norden der Insel im grossen Stil Altlasten aus dem Krieg unschädlich gemacht werden. Das werde ein Feuerwerk geben, versprechen die Gäste.


Heuler am Strand

Mitte Juni liegen die ersten Heuler am Strand. Seehundbabys, die von ihren Müttern nach dem Säugen liegen gelassen und später wieder abgeholt werden. Das kommt nun alle paar Tage vor und ist trotzdem jedes Mal wieder schön. Heuler heissen sie, weil sie manchmal herzerweichend zu heulen beginnen, wenn sie erwachen, hungrig sind und von der Mutter weit und breit nichts zu sehen ist. Es gibt militante Tierschützer, die beim Anblick eines Heulers sofort Himmel und Hölle in Bewegung versetzen, um die armen Tierkinder zu retten. Das ist manchmal lebensrettend und meistens völlig idiotisch, weil es einen Seehund zum Waisenkind macht. Der Seehundbestand im Wattenmeer wächst seit Jahren, obwohl auch etliche Heuler die Zeit am Strand nicht überleben. Aber gegen Menschen, die mit heiligem Eifer Gutes tun, ist bis heute kein Kraut gewachsen.


Trocken fallen lassen

Im Wattenmeer ist das Wasser manchmal da und manchmal nicht. Wenn es weg ist, sind die Schiffe trotzdem noch da. Sie lassen sich dann "trocken fallen", wie es heisst. Minsener Oog ist recht beliebt bei den Seglern, um sich trocken fallen zu lassen und auf das nächste Hochwasser zu warten. Die meisten Segler sind naturliebende Menschen, die die Nationalpark-Vorschriften kennen und Rücksicht auf Brutgebiete nehmen. Ein paar andere sind schlecht informiert oder von der Sorte Freibeuter, was eher mühsam ist. Während die Wattwanderer jeweils ein knappes Zeitfenster haben, um auf die Insel zu kommen, können die Segler jederzeit irgendwo landen oder sich trocken fallen lassen und einen kleinen Spaziergang unternehmen. Ganz sicher kann man nie sein, dass sich keiner auf die Insel schleicht. Aber in der Regel sehen wir sie. Und oft sind das angenehme Begegnungen wie hier mit Friedhelm Ohl, dem es trocken gefallen hat.


Leichen säumen den Weg

Man sollte sich das Inselleben nicht allzu romantisch vorstellen. Bei warmem Wetter stinkt es bei der Unterkunft wie in einer  Legebatterie. Und gerade jetzt, gegen Ende der Brutzeit, ist hier das grosse Kinderfressen angesagt. Die Wanderfalken und Rohrweihen schlagen sich die Bäuche mit unerfahrenen, eben flügge gewordenen Jungvögeln voll. Ihre Fressplätze sehen aus, als wären Daunenkissen aufgeschnitten worden. Möwen klauen Küken, wo immer sie eines erwischen und seis das Kind der Nachbarin. Sie klemmen sie in ihren langen Schnabel und schlagen sie tot. Die Wege sind gesäumt mit Vogeldreck, toten Vögeln, gerissenen Kaninchen und den Speiballen der Möwen. Am Strand zählten wir schon viele tote Seehundbabys. Gestern lagen zwei tote junge Basstölpel nebeneinander im Sand und nur wenige Stunden später war da auch noch ein toter Heuler.


Im Shitstorm

Die Vogelwarte müssen nicht nur Eindringlinge vom Betreten der Insel abhalten, zu ihrem Job gehört es auch, Vögel zu vermessen. Alle 14 Tage umkreisen sie am Samstag eine Stunde nach Hochwasser die Insel und zählen alles, was am Strand herumhängt. Das sind einzelne Tiere, das können aber auch Schwärme von bis zu 10'000 Brachvögeln sein, die jeweils ab August auf Minsener Oog mausern. Solche Schwärme kann man nur schätzen, was auch Glückssache ist. Sogar unter langjährigen Profi-Ornithologen soll es bei diesem Sport gelegentlich Abweichungen von hundert und mehr Prozent geben. Während der Brutzeit werden zudem einzelne Gelege oder Bereiche einer Kolonie eingezäunt, um während sechs Wochen den Bruterfolg zu messen. Das bedeutet, dass die Vogelwarte in unwettertauglicher Bekleidung alle sechs Tage mit Kisten und einer Waage in den Shitstorm gehen, die Eier vermessen, die Küken beringen und wägen. Die Daten, die seit Jahrzehnten erhoben werden, geben Aufschluss über Gesundheitszustand, Nahrungsangebot und Überlebenschancen der Küken. Für die Eltern der Forschungsobjekte sind die Menschen an ihren Nestern aber einfach feindliche Monster, die mit letzter Konsequenz angegriffen werden. Ganz so wehrlos sind die Tierchen nicht: Dieses Andenken auf der Glatze hat mir eine Silbermöwe verpasst, obwohl ich eine Mütze und darüber eine Kapuze trug. Solche Blessuren und das beschissene Outfit sind trotzdem der angenehmere Teil, denn nach dem Zählen und monitoren kommen die Excel-Tabellen, welche die Vogelwarte ausfüllen müssen und gegen die eine schweizerische Steuererklärung ein Sonntagsspaziergang ist. Aber Ornithologen lieben offenbar Reglemente und Formulare, zumindest wenn es sich um richtig wichtige Vogelforscher handelt.


Der plattdeutsche Name trifft es: Das "Tüütje" bei der Unterkunft bläst Alarm.

Klipp und Klick

Ursprünglich redeten die Leute am Wattenmeer plattdeutsch. Am Radio gibt es noch Sendungen in platt und gelegentlich trifft man Leute, die es noch reden oder wenigstens verstehen. Ich gehöre nicht zu ihnen. "Uppassen mien Lüttjen, duukt jo, daar kummt well!" Das heisst auf hochdeutsch: "Achtung meine Kleinen, duckt euch, da kommt jemand". Der Satz stammt aus einem hübschen Platt-Hochdeutsch-Wörterbuch über die wichtigsten Vögel des Wattenmeeres. Und man muss zugeben: Die plattdeutschen Namen passen oft viel besser zu den Tieren, als die hochdeutschen. Der kleine Strandvogel zum Beispiel, der jedes Mal aufgeregt in die Luft steigt um obigen Satz zu rufen, wenn wir vorbeikommen (und das ist oft, weil er direkt bei der Unterkunft wohnt), flötet in hoher Kadenz. Auf Hochdeutsch heisst er wegen seiner leuchtenden Beine Rotschenkel. In Plattdeutsch lautet sein Name "Tüütje". Der Austernfischer, der an der Küste unüberhör- und unübersehbar ist, heisst kurz und knapp: "Klipp". Und die kleine Zwergseeschwalbe, das optische und akustische Gegenteil des Austernfischers, heisst in plattdeutscher Sprache "Klick".



Reisen mit der DB

Mittlerweile acht Mal habe ich innerhalb eines Jahres mit der deutschen Bundesbahn das Land durchquert. Vier Mal von Basel an die Nordsee und vier Mal umgekehrt. Von diesen Fahrten sind bis jetzt genau drei so verlaufen wie ich sie gebucht habe. Von den vielen Sitzen, die ich online reserviert habe, konnte ich die wenigsten auch tatsächlich "besitzen". Jede dieser Reisen ist eine Lotterie. In Deutschland mit dem Zug reisen ist wie früher in Italien – so wörtlich nehmen das unsere nördlichen Nachbarn mit dem Zusammenwachsen von Europa.

Anstehen beim Reisezentrum der Deutschen Bundesbahn in Oldenburg - in Deutschland reist der Kluge nicht unbedingt mit dem Zuge.


Die Reise auf die Insel

Für die Anreise nach Minsener Oog gibt es keine Fähre. Wer mit Gepäck dort hin will, wird mit dem Schiff des Wasserstrassen- und Schifffahrtsamtes WSA gebracht. Vor der Insel werden Gepäck und Leute ins Schlauchboot verfrachtet und an Land gefahren. Bei stiller See und Hochwasser kann das Schiff auch mal am Anleger festmachen und man kommt trockenen Fusses auf die Insel. Aber das ist eher die Ausnahme.

Mit der "Schillig" geht die Reise von Wilhelmshaven bis vor Minsener Oog. Dort wird das Schlauchboot gewassert und der Passagier an den Strand gefahren. Ab dem Strand wird das Gepäck mit dem Wattwagen zur Unterkunft gekarrt.


Ein Schwarzstorch wird mit vereinten Kräften vertrieben. Flamingos neben Austernfischer - Pfingsten auf Minsener Oog.

Exoten, unfreundlich empfangen

Ab und zu verirren sich Tiere nach Minsener Oog. Sie werden selten freundlich empfangen, weil für die Einheimischen erst mal jeder Neuling ein potenzieller Feind ist. Als im Juni bei starken Winden ein junger Schwarzstorch auf die Insel geweht wurde, fand der keine Zeit, sich irgendwo auszuruhen. Wo immer er auftauchte, stürzten sich ganze Kohorten von Seeschwalben und Möwen auf ihn, bis er flüchtete. Auch eine Nutria oder Bisamratte, die eines nachts durch das Watt irrte, versuchte sich die Schwalbenschwärme vom Hals zu halten wie ein Mensch, der in einen Mückenschwarm gerät. Nicht angegriffen wurde ein Rehbock, der drei Tage lang auf der Insel war, dann aber wohl von ganz allein durchdrehte und in langen Sprüngen über das Watt setzte. Weit hinten verschwand er in der blauen Balje, dem Fahrwasser zwischen Minsener Oog und Wangerooge. Dort herrscht eine so starke Strömung, dass die Einheimischen sagen, man lande auf den Orkneys, wenn man hier schwimmen gehe. An Pfingsten schliesslich statteten zwei Flamingos der Insel einen Besuch ab, was sogar für ein Echo in der Lokalpresse sorgte.


Wie die Lebensmittel auf die Insel kommen

Ohne die Profis vom Wasserstrassen- und Schifffahrtsamt WSA in Wilhelmshaven müssten die Vogelwarte auf Minsener Oog verhungern. Ungefähr alle zwei Wochen verbinden sie eine Dienstfahrt mit der Futterlieferung für die Insel. Auch die grossen Wassertanks werden vom WSA über eine Leitung vom Schiff aus gefüllt. Dank diesem Service ist das Leben auf Minsener Oog vergleichsweise komfortabel. (siehe auch "Leben in der Schlengenbude") Der untenstehende Zeitraffer zeigt, wie eine Lebensmittel-Lieferung normalerweise - und hier bei ausserordentlich idealen Bedingungen - abläuft. Das Schiff fährt zur Wattkante, wassert das Schlauchboot, die WSA-Leute bringen die Kisten an den Strand, wo wir sie entgegennehmen und dann etwa 100 Meter zum Anleger tragen. Dort beladen wir die Lore und legen das letzte Teilstück maximal umweltfreundlich auf dem Schienenweg mit Muskelkraft zurück.

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